Jenseits des Klassenzimmers: Ein Open Source Ansatz für VR Lernwelten

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JK, ANV

Wie fühlt sich eine sinnvolle Lernumgebung an – nicht nur, wie sieht sie aus –, wenn wir sie von der ökonomischen Architektur der Verwertung und Kapitalrendite sowie der disziplinierenden Architektur von Schulen und Hörsälen befreien?

Im Gegensatz zu vielen kommerziellen XR-Produkten, die von Risikokapital und Gamification-Metriken geprägt sind, denkt das Team des Studio für unendliche Möglichkeiten nicht nur Lerninhalte neu, sondern auch, wo und wie Lernen stattfindet. Das aktuelle Forschungsprojekt entwickelt eine offene, VR-basierte Metaverse-Infrastruktur, die speziell auf Bildung und Forschung ausgerichtet ist. Der Prozess sowie die theoretischen Grundlagen offenbaren grundlegende Transformationskonflikte – und Chancen für Bildungssysteme im Wandel. Im Folgenden stellen wir unsere Entwurfsansätze und den Forschungsprozess für Bildung in VR vor, die das Potenzial haben, Lernräume grundlegend neu zu denken.

Räumliche Intention statt räumlicher Illusion

Im Zentrum des Projekts steht ein Verständnis, das von Mick Healey und seinem 2022 erschienenen Artikelüber physische Lernräume übernommen wurde: „Das Design von Lernumgebungen muss bei den institutionellen Werten und der pädagogischen Zielsetzung beginnen.“ Virtuelle Räume sind – wie reale – niemals neutral. Sie schreiben Erwartungen, Ausschlüsse und Interaktionsmodi mit. Der Open-Source-Prototyp des Studios widersetzt sich daher bewusst den naheliegenden Metaphern von „Klassenraum in der Cloud“ oder „Digital Twin Campus“. Stattdessen bilden Lernziele wie kollaboratives Problemlösen, verkörpertes Lernen oder kritische Reflexion die Grundlage für räumliche Gestaltungen.

So wird beispielsweise ein Lernmodul für Naturwissenschaften nicht in einem virtuellen Hörsaal verortet, sondern auf einer schwebenden Feuchtinsel inszeniert, deren Topografie auf Eingaben der Lernenden reagiert. Der Raum wird so nicht bloß Behälter, sondern epistemisches Werkzeug.

Dies steht im Einklang mit der systematischenLiteraturübersicht von Dan Davies (2013) zu kreativen Lernumgebungen: Flexible Nutzung von Raum und Zeit, Autonomie der Lernenden und Lernkontexte jenseits normierter Unterrichtsformate fördern nachweislich Kreativität und Kompetenzentwicklung. Virtuelle Realität kann diese Qualitäten – sorgfältig gestaltet – in konkrete neue Handlungsspielräume und reale Kopräsenz übersetzen, was statische Lerntechnologien meist nicht leisten.

Von Stickiness zu Flow

Die Metaverse-Strategie des Studios knüpft an Healeys Konzept des „sticky campus“ an – einem Ort, an dem Lernende sich freiwillig und gerne aufhalten. Im virtuellen Raum wird „Stickiness“ zur Frage des Flows: Kehren Lernende zurück, weil sie geistig und sozial angeregt werden, oder nur, weil Mechaniken sie durch Gamification binden?

Der Prototyp bietet daher modulare Kollaborationszonen, die von den Nutzenden selbst dynamisch umgestaltet werden können. Dies folgt Erkenntnissen von Bligh und Patel (2019), wonach Räume sowohl kognitive als auch soziale Integration ermöglichen müssen. Räumliche Gestaltung muss Zufallsgespräche ebenso ermöglichen wie fokussierte Konzentrationsphasen – ein Balanceakt selbst in der physischen Architektur, erst recht in der digitalen Simulation.

Das Studio widersteht der Versuchung, die Umgebung mit visuellen Reizen zu überfrachten. Wie Healey mahnt: Bildung braucht keine ästhetische Reizüberflutung, sondern eine funktionale Übereinstimmung von Raum und Lernprozess. Überladene VR-Umgebungen erzeugen schnell kognitive Störgeräusche, fördern Ablenkung statt Fokus und unterbrechen so den Flow.

Infrastruktur als Ethik

Die Entscheidung, die Plattform als Open Source zu veröffentlichen, ist kein Zufall. Project Lead Gloria Schulz betont die Bedeutung von zugänglichen, bezahlbaren und sicheren digitalen Werkzeugen, gerade für den Wissensaustausch und die Entwicklung neuer Erkenntnisse. In Zeiten knapper Budgets sind teure, statische und nicht anpassbare Anwendungen ein echtes Hemmnis für die Lern- und Forschungsprozesse, die Innovation ermöglichen.

Dieser Ansatz greift auch Kritikpunkte von Naomi Berman (2020) auf, die in ihrer Untersuchung informeller Lernräume vor der unkritischen Euphorie gegenüber „sozialen“ Lernräumen warnt, die übersehen, wie Gestaltung marginalisieren kann und Gestaltungsfreiheit sowie Barrierefreiheit verhindert.

Das Studio experimentiert deshalb mit anpassbaren Optionen für neurodiverse Nutzer*innen: Dazu gehören reizreduzierte Zonen, Audiountertitelung oder räumliches Scripting für routinenbasiertes Navigieren. Diese Funktionen sind keine „Add-ons“, sondern grundlegend in die Architektur des Raums integriert.

Auf dem Weg zu einer Architektur des Co-Learnings

Ein besonders radikaler Aspekt des Projekts ist die Integration von Co-Design-Praktiken direkt in den Entwicklungsprozess der Software. In Anlehnung an Jack Mezirows Theorie des transformativen Lernens und Healeys Modell der Studierenden als Partnerinnen werden Lernende nicht nur als Beta-Testerinnen, sondern als Mitgestalterinnen von Modulen einbezogen. Hier arbeitet das Studio eng mit dem akademischen Partner HTW zusammen, der Expertise in Lerndesign, Evaluation, Testing und Nutzerforschung einbringt. Über Workshops und gemeinsam entwickelte Templates mit der HTW Berlin gestalten zukünftige Nutzerinnen sowohl Pädagogik als auch Raum mit – weg vom passiven Konsum hin zu echter Autor*innenschaft.

Fazit: Nicht nur möglich, sondern notwendig

Das Forschungsprojekt des Studios ist nicht deshalb relevant, weil VR neu wäre, sondern weil traditionelle Lernräume – physisch wie digital – zunehmend den kognitiven, sozialen und ethischen Bedürfnissen vielfältiger Lernender nicht mehr gerecht werden und oft von profitorientierten Unternehmen gestaltet sind. Die Arbeit des Studios zeigt: Das Potenzial des Metaverse liegt nicht in der Replikation von Schularchitekturen, sondern in ihrer kritischen Dekonstruktion und einer gemeinwohlorientierten Neugestaltung.

Was aus dem Prototyp entsteht, ist keine „Lösung“, sondern eine offene Frage, iterativ durch Design gestellt: Welche Zukunft des Lernens wollen wir bauen – und für wen?

Für das Studio ist die Antwort klar: Eine Zukunft, die offen, kollaborativ, inklusiv und – vor allem – als Raum für unendliche Möglichkeiten gestaltet ist, nicht für Kontrolle.

Quellen:

Healey, M. (2022). The Design of Physical Learning Spaces in Supporting Learning and Engaging Students on Campus. University of Westminster.

Davies, D. et al. (2013). Creative learning environments in education—A systematic literature review. Thinking Skills and Creativity, 8(1), 80–91.

Suzanne Sasaki-Hartstein (2019) – Design philosophies for inclusive and flexible learning spaces.

Bild: The Garden of Cosmic Speculation in Dumfries, Schottland, gestaltet von Charles Jencks und Maggie Keswick.